Wenn der Adressat kein Französisch konnte, hatte er eine diabolische Freude daran, in hochkompliziertem Französisch zu schreiben; er steckte die Briefe, noch mit ein paar handschriftlichen Anmerkungen versehen, in die Couverts, nachdem man ihn wieder einmal darauf aufmerksam gemacht hatte, dass kürzlich die Postleitzahlen eingeführt worden waren. Mit derlei Bürokratismen hielt er sich nämlich nicht auf und war überhaupt ein ausserordentlich Unpraktischer, wie die Überlieferung eines ehemaligen Wohngenossen beweist, welcher ihn einmal dabei überraschte, wie er mit einem Mimosenstrauch versuchte, einen rumpelnden und rauchenden Ölofen zu löschen.

Meienberg. Lebensgeschichte des Schweizer Journalisten und Schriftstellers, S. 7.


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Als hervorragendes Pausenereignis (war es am Samstag oder Sonntag?) ist dem Chronisten in Erinnerung geblieben, dass ein älterer Herr und seine Dame die Treppe zur Bar hinunterstürzten und übereinanderkollerten und der Herr am Kopf recht sehr blutete, er heisst Dr. Sturzenegger und ist ehemaliger Leiter des Flugärztlichen Dienstes. Zwei weitere Personen stürzten ebenfalls recht unangenehm, weil nämlich die Treppenstufen für Leute, die sie in Abendkleidern besteigen, zu hoch geraten sind.

Niklaus Meienberg in "Der restaurierte Palast (und seine ersten Benützer)"


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Einmal im Sommer hatten die Spechte sozusagen eine Idee: sie pickten nicht mehr auf die Rinde der alten Kastanie, sondern plötzlich an die Fensterscheiben, und es kamen immer mehr, alle wie versessen auf Glas. Auch Bändel mit glitzerndem Staniol verscheuchten sie nicht auf die Dauer. Es wurde eine Plage. Trat man ans Fenster, um sie persönlich zu verscheuchen, so wählten sie flugs ein anderes Fenster, und man konnte nicht überall am Fenster stehen und in die Hände klatschen. Wirksamer war es, wenn Herr Geiser mit einer Latte auf den Granit-Tisch schlug, so dass es knallte wie ein Schuss, dann flohen sie und warteten in den Zweigen ringsum. Später tönte es wieder an diesem oder jenem Fenster; sie konnten im Anflug sich an der glatten Scheibe nicht halten, so dass sie im Flattern nur zwei oder drei Mal auf das Glas pickten, ausnahmsweise vielleicht vier Mal. Im Sommer darauf hatten sie es wieder vergessen.

Max Frisch, der Mensch erscheint im Holozän, S.58/59


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ich habe mir das genau überlegt. Die perfekte Tageseinteilung, dazu bracht man nur noch einen perfekten Raum. Man müsste allein aufwachen, notfalls vom Vogelgezwitscher, aber in jedem Fall ziemlich früh. Dann eine halbe Stunde dämmern und die Träume zurückverfolgen. Dann zügig aufstehen und sich dabei für einen ersten Gedanken entscheiden. Zwei Stunden Morgennotizen, von diesem Gedanken ausgehend. Eine halbe Stunde Frühstück und Zeitungslektüre im hinteren Teil eines Zimmers mit grünen, durchscheinenden Vorhängen oder, wenn das Risiko nicht zu gross ist, im hinteren Teil eines menschenleeren Cafés mit cremefarbenen Wänden und Blick auf die leere, regennasse Strasse. Eine Stunde in fremden Gedanken blättern, sofern sie einen nicht zu sehr an die eigenen erinnern, sonst Reportagen, Material für Stücke. Dann rauchend zur Bibliothek gehen, dabei vor sich hin träumen. Dort mehrere Stunden mit der linken Hand umblättern, mit der rechten Notizen machen. In einem bis dahin übersehenen Restaurant wenig und gut essen, dabei vom Wirt für einen kuriosen, schutzbedürftigen Gast gehalten werden, ihn aber bei der Abrechnung mit Schlagfertigkeit überraschen und amüsieren. Zwei Stunden an irgendeinem Meer gehen, dabei an die Berge denken. Ein Glas Rotwein in einer Bar für Durchreisende. Ein bis zwei Filme in einem abgelegenen Kino. Zu zweit einschlafen.

Jochen Schmidt, "Müller haut uns raus", S. 146


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Meine Hauptfehler sind: Erstens Unbeständigkeit (darunter verstehe ich Unentschlossenheit, Inkonsequenz, Mangel an Festigkeit und innere Widersprüche), zweitens ein unangenehmer, schwieriger Charakter, Reizbarkeit, exzessive Eigenliebe und Eitelkeit, drittens Hang zur Trägheit. Werde immer über diese drei fundamentalen Fehler wachen und es immer notieren, wenn ich in sie zurückfalle.

Es ist doch lächerlich, mit fünfzehn habe ich angefangen, Regeln aufzustellen, und jetzt mit nahezu dreissig schreibe ich sie immer noch auf, ohne ihnen vertraut oder je einer von ihnen gefolgt zu haben; und doch glaube ich an sie und brauche sie.

Was bin ich? Einer der vier Söhne eines pensionierten Oberstleutnants, mit sieben Jahren Waise, der Obhut von Frauen und Fremden anvertraut, ohne gesellschaftliche oder wissenschaftliche Erziehung, mit siebzehn Jahren mein eigener Herr, ohne grosses Vermögen, ohne jede gesellschaftliche Position und reichlich ohne Prinzipien: ein Mann, der seine Geschäfte bis zum äussersten Grade fehlgeleitet hat, seine besten Lebensjahre ziellos und ohne Freude vergeudete, und der sich schliesslich selbst nach dem Kaukasus verbannte, um seinen Schulden und vor allem seinen Gewohnheiten zu entrinnen, und der von dort durch Ausnützung der Beziehungen, die zwischen seinem Vater und dem Oberbefehlshaber existierten, zur Donau versetzt wurde: ein sechsundzwanzig Jahre alter Unterleutnant,fast ohne Mittel, ausgenommen seinen Sold (der eigentlich verwendet werden müsste, um die verbleibenden Schulden zu tilgen), ohne einflussreiche Freunde, ohne Fähigkeit, in Gesellschaft zu leben, ohne Kenntnis des Dienstes, ohne praktische Veranlagungen, aber mit einer enormen Selbsteinschätzung. .. Ich bin hässlich, linkisch, unordentlich und gesellschaftlich unerfahren. Ich bin reizbar, für andere langweilig, nicht bescheiden, intolerant und prahlerisch wie ein Knabe. Ich bin also ein Ignoramus. Was ich weiss, habe ich sozusagen mir selbst beigebracht, nur aufgeschnappt, unzusammenhängend, unsystematisch, und es ist recht wenig. Ich bin unmässig, unentschlossen, nicht ausdauernd, stupid eitel und leidenschaftlich wie alle charakterlosen Leute. Ich bin weder kühn noch methodisch im leben und so träge, dass meine Faulheit eine fast unbesiegbare Gewohnheit geworden ist. Ich bin intelligent, aber bis jetzt hat sich meine Intelligenz in keiner Weise bewährt, und ich habe weder praktische noch gesellschaftliche oder geschäftliche Fähigkeiten. Ich bin ehrenhaft – das heisst, ich liebe das Gutsein und habe es mir zur Gewohnheit gemacht, es zu lieben; trenne ich mich von ihr, so bin ich mit mir unzufrieden und kehre zu ihr mit Vergnügen zurück. Aber es gibt etwas, das ich mehr als das Gute liebe – Ruhm. Ich bin so ehrgeizig, und so wenig hat dieses Gefühl sich durchgesetzt, dass ich fürchte, bei der Wahl zwischen Ruhm und Tugend würd ich den ersteren wählen. Ja, ich bin nicht bescheiden und bin daher in meinem Herzen stolz, dabei aber doch schüchtern und prahlerisch in Gesellschaft.

aus Tolstoj, Biographie von Derrick Leon


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