Montag, 10. April 2006
zürich marathon 2006 (bericht 2005) es gibt nicht besonders viele tage im jahr, in denen es unablässig und heftig regnet, aber dieser sonntag ist einer von ihnen, ein experte sagt mir, dass zwei tiefdruckgebiete aufeinandergeprallt seien, genau über der schweiz. es ist fünf bis zehn grad und es regnet. somit stellt sich erstmal das kleiderproblem. bei sonnenschein ist die lage nämlich klar. da zieht man einfach so wenig an, wie es möglich ist angesichts sitte und sonnenbrand. von zwei unterkühlungen nach dem rennen berichtet die nzz (und von einem herzinfarkt und einem schlaganfall), ich entscheide mich für lange hosen und jacke und mütze und handschuhe. die kleider wechseln kann man überall, es ziehen sich einige tatsächlich im regen um. die meisten suchen sich aber einen platz, an dem es nicht regnet, zb eine bahnhofsunterführung, ein tankstellen-dach, die toilette eines restaurants. eine schwarze läuferin zieht sich mit einem aufgespannten regenschirm in der hand an ein gebäude gedrückt um. km 0: weil der bahnwagen, in dem die kleidersäcke aufbewahrt werden, ganz zuhinterst steht, sind wir zu spät zurück und können uns nicht mehr der angepeilten geschwindigkeit gemäss einreihen. ich überklettere also beim startschuss eine abschrankung und starte dann kurz hinter den spitzenläufern. gut: keine staus und engpässe. schlecht: das tempo ist hoch, aber man ist ja fit und kann mithalten. km 1: eingeständnis der ersten dummheiten, erstens: natürlich habe ich mit dieser aktion meinen in den schnürsenkel eingefädelten zeitchip viel zu früh ausgelöst und werde so sicher eine halbe bis eine minute verlieren (am ende zeigt sich: es ist mehr). zweitens: ich werde einen guten teil des rennens, wenn nicht das ganze, überholt werden, was psychlogisch nicht besonders aufbauuend ist. mich überholt der pacemaker 2,59:59, ich bremse erstmal etwas. ein erster teilnehmer geht für pipi in die büsche. km 2: am bellevue hat es menschen, dabei ist ist sonntagmorgen und acht uhr vierzig und einem hund würde man eher versuchen beizubringen, die toilette zu benutzen, als mit ihm vor die tür zu gehen. sie stehen da und rufen und lächeln und haben plakate für papi, häsi, babsi und fuchsi! hopp! km 3: der erste blick auf den see. es ist einfach nur grau. in einem ovalen vom nebel freigegebenen fenster sind ein paar häuser am anderen ufer zu erkennen. km 4: die ersten kurzen tranceartigen aussetzer, die zum ernsthaften laufen einfach dazugehören, setzen ein. einsetzende aussetzer äussern sich zb so: ein gefühl meldet, dass die handschuhe unnötig sein könnten. ich ziehe beide aus und versorge den rechten in der jackentasche. mit dem linken möchte ich dasselbe tun, leider führe ich ihn seitlich unter die startnummer ein und lasse ihn von da zu boden fallen. ein blick zurück, anhalten unmöglich, den anderen kann ich jetzt auch nicht mehr brauchen, also weg damit. dann mache ich mir während einem kilometer gedanken, warum ich ihn nur am wegesrand deponiert habe und ihn nicht in die luft und einem anderen läufer ins gesicht geworfen habe. oder einem zuschauer geschenkt. km 5: der erste posten mit wasser, auf den ich schon lange warte, ich bin nämlich jetzt schon mehr am anschlag, als ich mir zugestehen will. ich spüre ein ziehen in den oberschenkeln, hey, das ist eindeutig zu früh. km 8: "welcome to brasil-küsnacht" oder sowas ähnliches ruft der moderator vom aufgebauten gerüst, wo er mit mit zwei brasilianern und sechs brasilianerinnen den karneval macht. herrlich unpassend eigentlich, aber die laute musik und die enthusiastische anfeuerung ist balsam für die durch die umstände geschundenen und zuspruchshungrigen seelen. mich rührt das ganze tamtam, dankbarkeit erfüllt mich und meine augen werden feucht. wenn das so weiter geht, dann schiessen mir am ziel fontänen aus den augen. km 11: der viertel ist geschafft, ich gehe auf die linke strassenseite, um die spitze zu erwarten. sie, drei unglaublich fixe läufer aus äthiopien und kenia, kreuzen mich viel später als das jahr zuvor, was auf ein langsameres rennen und auf meinen schnelleren start deuten lässt. km 13: die erste frau und die zweite frau im rennen, jeweils gekennzeichnet durch ein vorausfahrendes bike mit schild, kommen mir entgegen. eine der spitzenläuferinnen soll mit blutigen brüsten ins ziel gekommen sein, in einem rotverschmierten weissen t-shirt. nichts für memmen, so ein marathon. km 15: die bananen- und powerriegelstücke schwimmen in den plastiktellern, kein halbwegs kultivierter mensch würde zugreifen, aber die läufer rennen zu den tischen, zermantschen mit ihren joggingschuhen die heruntergefallen stücke davor und rennen davon mit dem nassen bananenstückli wie kleinkinder in der phase, in der sie alles mit dem mund prüfen müssen. km 16: wendepunkt in meilen bei noch fast besserer stimmung als im jahr zuvor. die aufmunterung macht instant nirwana und ich lächle darum auch. überhaupt, man kann den zuschauern wie nichts zurückgeben. die paar sekunden, in denen man sie sieht, rennt man nur, wie tausende andere. man könnte was spezielles anziehen (zb eine orange perücke wie einer kurz nach den spitzenläufern. oder einen eleganten hellgrünen garnpullover mit v-ausschnitt zu einer trainerhose, wie ein anderer. oder messages auf dem shirt haben: "ich renne diesen marathon in 4:30" und viel schneller sein. "eine reise von 5000 km beginnt mit einem ersten schritt". "die chance zu gewinnen, liegt bei 0.0002 %, die chance ins ziel zu kommen, liegt bei 69.7 %, ...". singen und tanzen liegt nicht drin, jedenfalls nicht lange. km 18: der besenwagen, der jene einsammelt, die hochgerechnet länger als fünf stunden brauchen werden, braust heran. ein kleiner motivationsschub kommt auf und erschreckend wenig mitleid. km 21: ein kleiner anstieg vor der zeitmessung zum halbmarathon, plötzlich werde ich von einer gruppe von zwanzig oder dreissig läufern überholt. kurze verstörung, dann sehe ich den pacemaker mit dem ballon und dem 3:30h-t-shirt als anführer dieser traube. nun weiss ich mal wieder, wie ich stehe. nämlich sehr gut, denn 3 stunden 30 minuten sind mein gesetztes ziel. wenn ich jetzt mit dieser gruppe mitlaufen kann, dann erreiche ich das. noch schneller wäre aber noch besser: ich überhole die gruppe wieder und versuche ein konstantes tempo zu laufen, als mich ein loser schuhbändel zum insgesamt vierten mal zu einem stop zwingt. für alle, die jetzt eine frage haben: nein, ich habe KEINE klettverschlüsse am schuh und nein, ich habe KEINEN doppelknopf in die schnürsenkel gemacht, schickt mich doch zurück in den kindergarten. als ich wieder mitlaufe, ist die 3,30-truppe an mir vorbei. km 24: die letzten kilometer waren ernüchternd. der schwung ist dahin, schmerzen treten überall gleichzeitig auf und ich werde bedenklich langsam. gedanken ans aufgeben wechseln ab mit gedanken an einen möglichen zusammenbruch und gedanken an den besenwagen oder an eine unakzeptable zeit. km 25: wir sind wieder im brasilianischen dorf und die kaffeebraunen (hier eine ohrfeige) schönheiten bewegen ihre winzigen hinterteile im strömenden regen. sie sind unterdessen von ihrem sockel heruntergestiegen und tanzen im regen an der strasse. der moderator ist grosse klasse im manipulieren von emotionen und versichert allen durchlaufenden, dass es bald vorbei ist, dass es nicht so schlimm ist, dass das ziel nicht mehr weit ist. er sagt sätze wie "jetzt geht heimwärts, nach zürich" und "ihr seid bald daheim" und evoziert in mir visionen von heisser suppe und kachelofen und warmen trockenen handtüchern. als ich vorbei bin, fange ich fast an zu schluchzen. ich denke an die linsen, die es hierbei bestimmt ausspült und daran, was das überhaupt soll. heulend im regen durch die strassen rennen und das vor publikum? dafür zahlt man hundert franken startgeld? km 26: hier vollzieht sich eine wundersame, tiefgreifende, spirituelle wandlung: ich akzeptiere meine hoffnungslose situation und lasse alles hinter mir: den vorsatz, eine gute zeit zu laufen. die mit dem regen, der kälte, mit dem leiden zusammenhängenden unangenehmen gefühle. alles wollen und streben, alles drängen und beissen, alles quälen und krampfen: ich lächle, ich lache. jetzt ist nur noch ein ziel da: das ziel. das ziel zu erreichen. und zwar egal wie. am besten lächelnd. km 28: mein grinsen ist noch immer hier, manchmal denke ich, es muss selbst mir angst machen, aber da ich keinen spiegel habe, rede ich mir ein, dass ich normal bin und keine fratze ziehe wie richard d. james. km 30: die stadt ist hier und ich bin sehr sehr langsam unterwegs. darum und weil ich so debil grinse, haben die leute genügend zeit, meinen namen auf der startnummer zu lesen. so kriege ich zuspruch, der sehr persönlich wirkt. der mensch gewöhnt sich jedoch an alles und schon nach kurzer zeit glaube ich, prominent zu sein. einer ruft mir zu: "hey ..., nicht den frauen nachschauen, rennen!" ich grinse mich bis ins ziel, kurze momente wie essen, trinken, wasserlassen und schmerzüberfälle ausgenommen. km 32: natürlich passiert es jetzt dennoch: eine der wegwerflinsen verschiebt sich im auge und macht mich halbblind. ich halte zweimal an und versuche stoisch, sie dem auge wieder anzupassen, aber da ist keine hoffnung mehr. ich werfe den purchen zu poden und sehe nun nur noch die hälfte. wieso ich ersatzlinsen mitgenommen habe, ist mir jetzt auch nicht mehr klar. habe ich echt gedacht, mir sei es möglich, in diesem zustand neue einzusetzen? km 34: ein weiteres detail, das man nicht wissen will: ich spüre, wie einer der grossen zehennägel wegbricht. wird nachmittags im bad bestätigt. km 36: ich bin am ende, aber der lauf erst in sechs kilometern. eine kurze überholbilanz ergibt, dass ich etwa drei personen überholt habe, mich aber etwa dreitausend. km 38: es passiert dasselbe wie im jahr zuvor, nur im unterschied, dass 2005 bis zu diesem punkt fast alles freundlich und mühelos war. die kilometertafeln sind auch diesmal unglaublich weit auseinander, jeder einzelne kilometer ein kleiner marathon. km 39: ich benutze erstmals eine öffentliche toilette und bin dankbar dafür, dass ich von verdauungsgeschichten verschont geblieben bin. an mir nagen nur die kälte, die schmerzenden beine, die müdigkeit und die verflixten ausstehenden drei kilometer. km 40: ein letztes cola in der kurve vor der zielgeraden lässt mich an meinen zwischenspurt voriges jahr denken. ein schöner gedanke, der wenig mit der realität zu tun hat. km 41: am rand richten sich besorgte blicke auf einen zwischen zwei samaritern hängenden mann. als ich wieder nach vorne gucke, bin ich überholt von der gruppe um den pacemaker mit vier stunden laufzeit. aber das lass ich mir nicht bieten. unter vier stunden muss drinliegen, ein letzter ehrgeiz kommt auf, ich überhole. km 42: der speaker redet davon, dass die jetzt eintreffenden eine laufzeit von 3:56 / 3:57 haben werden, auf der rangliste bin ich dann mit vier stunden und ein paar sekunden, 16 minuten langsamer als letztes jahr also. so what, ich bin im ziel und dort laufe ich ein als winner, wie alle, die da durchkommen. keine weinkrämpfe, sondern glückerfülltes lachen, als mir die finisher-medaille um den hals gehängt wird. angekommen auf einer emotionalen reise, von der parallelen gezogen werden können ins grosse und ins kleine. mit dem unterschied, dass das leben mit dem tod endet. wie das dann ist mit den medaillen - wir werden sehen. hier kriegen alle eine. alle, die das ziel erreicht haben. |
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